Spannungsbögen

Bei der Weitergabe der Feinheiten der japanischen Teezeremonie, in diesem Fall der Ueda Sôko-Tradition, hat es sich immer wieder als hilfreich erwiesen, zu scheinbar abwegigen Vergleichen zu greifen. Und diesmal steht ein Vergleich mit der Tempelarchitektur der alten Griechen auf dem Plan.

 

Paestum, September 1957. Wir stehen, eine Gruppe junger Studenten der noch jungen Universität Saarbrücken, vor einer der beiden Längsseiten des sog. Poseidon-Tempels, errichtet in der Blütezeit des griechischen Tempelbaus, vermutlich nach dem Vorbild des Zeus-Tempels in Olympia, der wichtigsten Kultstätte des antiken Griechenlands. Der Tempel steht auf einem dreistufigen Fundament, die äußere Säulenreihe der Längsseite umfasst vierzehn dorische Säulen, die Vorder- und Rückseiten jeweils sechs. Unser archäologischer Begleiter rät uns, an dem einen Ende der Längsseite eine Cola-Flasche auf die mittlere Treppenstufe zu stellen. Dann fordert er uns auf, an das andere Ende der Treppenstufe zurückzukehren, unsere Augen auf die Höhe der Stufe zu bringen und nach der Cola-Flasche Ausschau zu halten – es ist keine Flasche zu sehen! Die Stufen des Fundaments fallen also zu den beiden Enden hin leicht ab und müssen folglich in der Mitte der Längsseite leicht nach oben gewölbt sein. Aus kleinerem oder größerem Abstand zum Tempel ist von einer solchen Wölbung nichts zu erkennen; die Stufen des Fundaments einschließlich deren Oberkante erscheinen absolut waagerecht. Anschließend lenkt unser Fachmann unsere Aufmerksamkeit auf die Abstände zwischen den Säulen der Längsseite, und es ist nun keine große Überraschung für uns mehr, uns überzeugen zu lassen, dass sie von dem mittleren Säulenpaar her zu den Ecken des Gebäudes hin allmählich abnehmen. Und wieder ist davon mit dem bloßen Auge nichts zu erkennen: Wieder haben wir absolute Gleichmäßigkeit der Abstände vor uns!

 

Warum diese höchst subtilen Tricks? Unser Spezialist klärt uns auf: Diese Maßnahmen verhindern, dass der Tempel zu einer bloß additiven Reihung von Elementen wird, einer Reihung, die genausogut auch verlängert oder verkürzt werden könnte. So aber steht der Tempel als ein steingewordener Spannungsbogen da, als ein Ganzes von organischer Geschlossenheit, das seine faszinierende Wirkung auch noch nach zweieinhalb Jahrtausenden und selbst als Ruine nicht verloren hat.

 

Bei der Teezeremonie hingegen geht es um höchst vergängliche Spannungsbögen – um diejenige von Bewegungen. In der Ueda Sôko-Tradition gibt es einzelne Aktionen, die sich über eine größere räumliche Distanz erstrecken, beispielshalber des Hishaku beim Transport von Wasser zwischen Mizusashi und Kama, im Sommer auf dem Weg hin zum Mizusashi und im Winter vom Mizusashi weg und hin zum Kama. Diese Bewegungen können nur einfach so dahin ausgeführt werden, ohne dass der Ausführende ihnen besondere Aufmerksamkeit schenkt, sozusagen wie nebenbei. Oder der Ausführende verleiht ihnen ganz bewusst und für den Gast wahrnehmbar Anfang und Ende – keinen Anfang und kein Ende, die durch den Herkunfts- und den Zielort vorgegeben sind, sondern einen Anfang und ein Ende, die in der Bewegung selbst enthalten sind. Im Falle des Wassertransports mittels Hishaku bieten sich Zu- und Abnahme der Geschwindigkeit an, derart, dass die Bewegung verhalten einsetzt, sich zur Mitte hin beschleunigt, um dann gegen Ende wieder zu verlangsamen.

 

Oder bei einer mehrfachen Wiederholung relativ kurzer Einzelbewegungen, etwa beim sechsfachen Straffen des Fukusa oder der fünfmaligen Seitenreinigung des Yohôbon. Hier kann der Spannungsbogen dadurch erzeugt werden, dass die Straff- und Wischbewegungen mit relativer Schnelligkeit einsetzen, zur Mitte hin langsamer werden und zum Ende hin die Anfangsgeschwindigkeit wiederaufnehmen. Oder auch umgekehrt.

 

Beide Arten von Spannungsbögen haben die Wirkung, den Gast stärker einzubeziehen, ihn gleichsam in die Bewegung mit hineinzuziehen, derart, dass sich die ‚Magie der Bewegungen‘ – so eine kluge, wortgewandte junge Italienerin – vom Gastgeber unwiderstehlich auf den Gast überträgt. ‚Kein Gast, kein Gastgeber‘ – diese uralte Losung des Teewegs, hier wird sie Wirklichkeit.