Die Redewendung ‚neuer Wein in alten Schläuchen‘ dürfte noch nicht ganz in Vergessenheit geraten sein. Wenn wir sie an dem angeblichen Jesus-Gleichnis vorbei dahingehend verstehen, dass sich das Alter der Schläuche qualitätsmindernd auf den jungen und frischen Wein auswirkt, so besagt die Umkehrung ‚alter Wein in neuen Schläuchen‘, dass die neuen Schläuche den alten Wein verjüngend auffrischen.
Als Lehrer der Ueda Sôko Ryû / Hiroshima vertreten wir eine Stilrichtung der japanischen Teezeremonie, die sich selbst als Bukecha, als ‚Tee der Krieger‘, genauer, als ‚Tee der Samurai‘ versteht. Dieses Selbstverständnis hat historische Gründe: Die Ueda Sôko Ryû reicht mit ihrem Schulgründer bis in jene weit zurückliegende Epoche zurück, in der die letzten großen Schlachten vor der endgültigen Einigung Japans durch das Tokugawa-Shôgunat stattgefunden haben und die Samurai für die gesamte Edo-Zeit aus Kriegern zu Verwaltungsbeamten geworden sind. Gleichwohl durften, ja mussten sie die Insignien ihres früheren Kriegerstandes, ein Lang- und ein Kurzschwert, ständig an sich tragen, die sie allerdings vor dem Betreten eines Teehauses auf einer entsprechenden Vorrichtung oberhalb des niedrigen Gästeeingangs, des Nijiriguchi, ablegen mussten.
Wir hier in Deutschland und im 21. Jahrhundert haben noch weniger als die Japaner selbst irgendeinen nachvollziehbaren Grund, die längst versunkene Welt der Samurai wiederaufleben zu lassen und die vielerlei Formen der Teezeremonie mit Abstufungen von Ehrerbietung zu befrachten, wie sie einst unter den Samurai üblich gewesen sind (diese Praxis fällt im Nachhinein insbesondere bei all den Zeremonien der Ueda Sôko Ryû unübersehbar ins Auge, bei denen Gäste unterschiedlichen sozialen Ranges unterschiedlich, und das heißt zugleich, mit unterschiedlichem Respekt bewirtet worden sind – weshalb auch der jetzige Großmeister Ueda Sôkei XVI gerade diese Zeremonien aus dem offiziellen Lehrprogramm ausgeschlossen hat). Für uns hingegen bedeutet Teezeremonie lediglich ein komplexes Spiel, in dem Meisterschaft zu erringen durchaus beglückend sein kann – ein Spiel, das freilich auch seine ernsthaften Seiten hat: eine ausgeprägte und besondere Gastlichkeit, den ästhetischen Aspekt einer sorgfältig überlegten Auswahl des zu verwendenden Geräts sowie, als Erbe des Zen, eine Atmosphäre wohltuender, befreiender Meditation.
Selbstverständlich legen wir Heutigen Wert darauf, die geschichtlich vorgegebenen Handlungsabläufe der Ueda Sôko Ryû weiterhin korrekt und sorgfältig zu vermitteln – wobei wir uns durchaus dessen bewusst sind, dass wir mit unserer Lehrtätigkeit den Stil einer der ältesten Teeschulen Japans vertreten, der sich durch Schlichtheit und Geradlinigkeit der Bewegungen (fern allen barocken Übertreibungen) sowie ganz allgemein durch Behutsamkeit der Ausführung (mit maximaler Vorsicht und Umsicht den Geräten gegenüber) auszeichnet.
Was das Repertoire der Ueda Sôko Ryû an einzelnen, immer komplexeren Zeremonien angeht, so verlangen schon die Grundzeremonien zu Usucha und Koicha eine Sorgfalt und Intensität der Ausführung, die Würde ausstrahlen und mit eben dieser Würde dem Gast das Gefühl vermitteln, als dieser Gast hier und jetzt ernst und wichtig genommen zu werden, derart, dass auch höhere Zeremonien kein Mehr an Ehrerbietung den Gästen gegenüber enthalten können und eine Hirademae in gleichem Maße die Essenz des Teeweges verkörpert wie beispielshalber eine Bondate Daitenmoku Shin-Zeremonie. (Man bedenke zur Verdeutlichung das Gegenteil zu einer mit Würde vollzogenen Grundzeremonie – eine zwar korrekt, aber oberflächlich ausgeführte und nur so dahingeschluderte Zeremonie, die geradezu auf so etwas wie Missachtung und Beleidigung der Gäste hinausläuft).
Das Spiel ‚Teezeremonie‘ weist, unabhängig von den Eigenheiten der einzelnen Teeschulen, ganz allgemein eine Vielzahl von Varianten auf; das gilt auch für die Ueda Sôko Ryû. Und zwar kommen diese Varianten durch Erweiterungen gegenüber den eher minimalistisch ausgerichteten Grundzeremonien zustande.So lassen sich zunächst einmal die Hauptgegenstände einer jeden Zeremonie, Natsume, Chaire, Chawan, auf vielfältige Weise hervorheben. Dabei werden bei Meiki-, Hairyôki- und Kinin-Zeremonien die Natsume bzw. Chaire oder ebenso auch die Chawan auf einem Kobukusa genannten Stück kostbarer Seide präsentiert; oder Natsume und Chaire auf einem Lacktablett oder die Chawan in einen Seidenbeutel eingehüllt oder leer auf einem Kobukusa, dem Blick der Gäste frei dargeboten, oder gar auf einem Dai, einem ebenfalls lackierten oder auch naturbelassenen Ständer aus auffällig gemasertem Holz aufsitzend – einem Respekt vermittelnden Zeremonialgerät.
Darüber hinaus lässt sich die Handhabung dieser Gegenstände auf nicht minder vielfältige Weise erweitern. So muss der Gastgeber – wieder bei Meiki-, Hairyôki- und Kinin-Zeremonien – Natsume, Chaire und Chawan mit beiden Händen – statt nur mit einer, wie bei den Hirademae – handhaben, was auf einen sichereren und behutsameren Umgang hinausläuft; so werden Chaire oder, im Falle einer Usucha-Zeremonie, die Natsume, aber auch Lacktablett, Chashaku und Dai je nach Zeremonie mit unterschiedlicher Faltung des Fukusa rituell gereinigt, und kann schließlich der Reinigungshandlung selbst ein mehrmaliges Straffen der Seiten des Fukusa-Gevierts vorgeschaltet werden: nur bei der Chaire oder bei Chaire und Tablett, oder zusätzlich, auf einer noch höheren Stufe, auch beim Chashaku und schließlich auch noch beim Dai, also auf der höchsten Stufe insgesamt viermal (wobei – religiösen buddhistischen Mythen zufolge – das Fukusa mit dem Straffen seiner vier Seiten, bei dem die linke Hand gleichmäßig an den Kanten entlangfährt, das von ihm symbolisierte das Geviert der Welt in rituell-spirituelle Reinheit versetzt).
Dann sind da noch die sog. Karamono-Zeremonien, die ihren Namen der Tatsache verdanken, dass der Schwertadel spätestens seit der Zeit Oda Nobunagas darin gewetteifert hat, für seine Koicha-Zeremonien kleine keramische Gefäße aus dem Song-zeitlichen China zu erwerben, um sie bei ihren Teezusammenkünften als Chaire einzusetzen. Diese Gefäße, in der Regel schlicht, ja beinahe unauffällig, waren schon damals von unschätzbarem Wert und sind heute zumindest für normale Anhänger des Teewegs so unbezahlbar wie unerreichbar, wenn sie denn überhaupt auf dem Kunstmarkt angeboten werden oder nicht einmal das. Gleichwohl gehören Karamono-Zeremonien auch heute noch zum Lehrprogramm der Ueda Sôko Ryû, und da bereichern sie das Spiel ‚Teezeremonie‘ um weitere Variationen, und zwar in Gestalt vom Üblichen abweichender Positionen des Geräts auf der Dôgu-Matte, einer Trennung zwischen der Reinigung des Chasen in einer zusätzlichen Teeschale und derjenigen der im Zentrum stehenden Haupt-Chawan selbst, einer extravaganten Präsentation der Teegeräte schon vor Beginn der Zeremonie und einer deutlich als Zäsur gekennzeichneten Abtrennung der Enthüllung und Reinigung dieser Stücke vom Hauptteil der Zeremonie, der Zubereitung des Tees samt Hinwendung zu den Gästen, verbalem Austausch zwischen Hauptgast und Gastgeber, ritueller Abschlussreinigung des verwendeten Geräts und Vorbereitung des von den Gästen erbetenen Haiken.
Auch wenn Teezeremonie insgesamt auf diese Weise als bloßes ‚Spiel‘ beschrieben wird, so ist sie dennoch ein von tiefem Ernst erfülltes Spiel, das von allen Beteiligten, Gastgeber und Gästen, einerseits volle Konzentration und rückhaltlose Hingabe verlangt, sie aber andererseits mit einer beglückenden Befreiung von allen Alltagssorgen, ja mit einer Ahnung von Frieden und Erfüllung belohnt.
Und wenn wir heutzutage den Bukecha des längst dahingegangenen japanischen Schwertadels in diesem Sinne als ‚Spiel‘ betreiben, dann machen wir uns keiner Verklärung der Vergangenheit, obendrein einer fremden Vergangenheit schuldig. Im Gegenteil können wir uns zugutehalten, dass wir mit dem, was wir da praktizieren, alles, was uns Heutigen an der Welt der Samurai als befremdlich, ja als nicht akzeptabel erscheint, hinter uns gelassen haben. Wenn wir uns also auch weiterhin zum Bukecha bekennen, so ist das ein von allen Edo-zeitlichen Standesauflagen gereinigter Bukecha, der sich keines Fehls bewusst sein darf und obendrein sogar auf sein Erbe in Gestalt der überlieferten Formen dieses Stils durchaus stolz sein kann – wie denn überhaupt die Ueda Sôko Ryû selbst in dem bald nach dem Tod des Schulgründers erschienenen Sôko-sama Okikigaki (宗箇様御聞書), der ‚Niederschrift der Aussagen von Augenzeugen Sôkos‘, eine Quelle besitzt, die den ursprünglichen, vor-Edo-zeitlichen Stil Ueda Sôkos authentisch wiedergibt, auf den Ueda Sôkei XVI den Stil seines Hauses zurückzuführen seit Jahren bemüht ist.