Teezeremonie sei ein Übungsweg des Zen, so heißt es hin und wieder. Wer sich jedoch, wie der Verfasser, in beiden Welten einigermaßen auskennt, muss da Vorbehalte haben. Teezeremonie ist vor allem eins – eine Kunst. Allerdings eine Kunst, die durchaus auch Elemente des Zen und der Zen-Meditation in sich aufgenommen hat – aber in gleichem Maße auch Elemente des Shintô, der uralten Naturreligion Japans. Und ebenso wichtig: Teezeremonie ist eine Kunst mit vielerlei Aspekten: die Kunst einer besonderen Gastlichkeit, die Kunst der ästhetisch überzeugenden Ausübung vorgeschriebener Bewegungen sowie die Kunst, durch Auswahl und Zusammenstellung der erforderlichen Geräte den Schönheitssinn der Gäste anzuregen und zu erweitern.
Beginnen wir mit dem Offensichtlichsten, den Shintô-Anteilen der Teezeremonie. Überall in Japan kann man in Städten und freier Natur auf Shintô-Schreine stoßen. Wer sich dem Allerheiligsten eines Schreins nähert, um dort mit Händeklatschen und wortlosen Verbeugungen das Wohlgefallen des Gottes zu erbitten, muss sich zuvor reinigen: Nur der rituell Gereinigte darf vor die unsichtbare Gottheit treten. Und diese Reinigung besteht darin, dass der Gläubige sich frisches Wasser über die Hände fließen lässt und den Mund ausspült. So hat er sich von den Befleckungen der Alltagswelt befreit und in einen Zustand versetzt, der der Sphäre des Göttlichen angemessen ist. Teezeremonie ihrerseits wird in schlichten Holzhäusern vollzogen, die ebenso wie das schlichte Haus eines Gottes in die Natur eingebettet sind, versteckt in einem eigens dafür entworfenen Teegarten. Der muss vor dem Eintreffen der Gäste gereinigt, und das heißt, von Unkraut und abgefallenen Blüten und Blättern befreit werden. Wenn die Gäste sich durch den Garten hindurch dem Teehaus nähern, erwartet sie unterwegs eine Wasserstelle: ein mit frischem Wasser gefüllter ausgehöhlter Stein, über dem eine Schöpfkelle abgelegt ist – als stumme Aufforderung, sich wie beim Betreten eines Shintô-Schreines die Hände und den Mund zu spülen. Ja, noch mehr: Kurz vor dem Eingang des Teehauses erreichen die Gäste eine kleine tönerne Abfallgrube, deren Boden einige eigens dazu arrangierte pflanzliche Reste bedecken und in die hinein die Gäste die ‚Abfälle‘ ihres Herzens und Geistes von sich abtun sollen. Ein Blick hinauf zum Giebel des Teehauses mit einer Namenstafel rundet die Vorbereitung der Gäste ab: So trägt das Teehaus in Hannover den Namen Senshintei, ‚Hütte zur Reinigung des Geistes‘. Und damit ist vorerst nur die Shintô-spezifische Erhebung über die irdische Alltagswelt gemeint, mit der wir uns dem Numinosen annähern – eine Reinigung, die sich im Inneren des Teehauses fortsetzt und dort allmählich in die Zen-spezifische Reinigung des Geistes durch ‚Nicht-Denken‘ (Mushin) übergeht.
Wie der Teeraum vor dem Eintreffen der Gäste von irdischen Verunreinigungen wie Staub und Spinnweben befreit worden ist, so beginnt die eigentliche Performance des Gastgebers / der Gastgeberin (im Folgenden nur noch ‚Gastgeber‘) mit einer ausführlichen Reinigung aller Geräte, die an der Zubereitung des Tees beteiligt sind – eine Eröffnung, die die Teezeremonie insgesamt über die Sphäre irdischer Alltäglichkeit hinaushebt. Die Gäste andererseits betreten einen bis auf eine Kalligraphie und einen Kessel mit siedendem Wasser leeren Teeraum, dessen Boden wie in Zen-Klöstern mit Binsengrasmatten bedeckt ist – die für das Zen charakteristische spirituelle Leere in dreidimensionale Wirklichkeit übersetzt. Noch vor dem Ensemble aus Feuerstelle (Fûro) und summendem Kessel (Kama) – wir haben dabei eine Sommer-Zeremonie vor dem geistigen Auge – verlangt die Kalligraphie die respektvolle Aufmerksamkeit der Gäste. FU NI könnte dort geschrieben stehen, ‚Nicht-Zwei‘, einer der Grundbegriffe des Zen, der darauf hinweist, dass Zen einen Zustand anstrebt, in dem es keinen Unterschied mehr gibt zwischen einem beobachtenden oder beurteilenden Subjekt und dem Gegenstand seiner Beobachtung – ein Zustand, der gelingendes ‚Nicht-Denken‘ voraussetzt, so dass sich kein Gedanke mehr zwischen Subjekt und Objekt eindrängen kann. Und genau das ist der Zustand, in den sowohl der Gastgeber bei seiner Ausführung der Zeremonie, also der Handhabung der Geräte, wie auch die Gäste beim aufmerksamen Verfolgen der Bewegungen des Gastgebers eintreten sollen. Beide, Gastgeber und Gäste, sind dann ganz in den Ablauf der Zeremonie versunken. Und in Beiden stellt sich ein Zustand tiefen, inneren Friedens ein, beim Gastgeber bereichert um das beglückende Gefühl, sich vorbehaltlos einem Strom physisch-spiritueller Energie überlassen zu können.
Damit der Funke auf die Gäste überspringen kann, bedarf es einer besonderen Meisterschaft auf Seiten des Gastgebers. Sämtliche Bewegungen, das Falten des Teetuchs (Fukusa), das Säubern von Teebehälter (Chaire bzw. Natsume), Teelöffel (Chashaku) und Teeschale (Chawan), die Handhabung der Wasserschöpfkelle (Hishaku), das Einfüllen des Teepulvers in die Chawan, das Schöpfen und Ausgießen von kaltem und heißem Wasser, das Verrühren bzw. Schaumig-Schlagen des Tees (Koicha, ‚dicker Tee‘ bzw. Usucha, ‚dünner Tee‘ ), die Darreichung des fertigen Tees – all diese Bewegungen müssen mit Sorgfalt, Gleichmäßigkeit und Eleganz ausgeführt werden, derart, dass eine durchgängige Harmonie den gesamten Ablauf überwölbt und die Gäste noch vor dem Trinken des Tees in ihren Bann zieht. Wenn dann auf dem Höhepunkt der Zeremonie die Gäste den ‚Teebrei‘ bzw. den schaumig geschlagenen ‚dünnen Tee‘ unter selbstverständlicher Einhaltung genauer Regeln genossen haben und in die Stille des bisherigen Ablaufs auch verbale Kommunikation zwischen Gastgeber und Gästen eingeflossen ist, folgt noch eine abermalige Reinigung der Geräte, die sie von den Spuren ihrer Benutzung befreien soll. Bei diesen abschließenden Handlungen, die zum großen Teil Wiederholungen der einleitenden Reinigungsaktionen darstellen, kommt es darauf an, ihnen bei gleichbleibender Eleganz und Harmonie eine deutlich spürbare größere Leichtigkeit zu verleihen und so die Gäste mit in die Stimmung eines Ausklangs einzubeziehen. Dabei haben allerdings die Gäste selbst das letzte Wort: Auf eine entsprechende Bitte des Ersten Gastes hin gibt der Gastgeber ihnen Gelegenheit, die zentralen Gegenstände Chaire bzw. Natsume, Chashaku sowie, bei der Koicha-Zeremonie, auch den Seidenbeutel in die Hände zu nehmen, der eingangs die Chaire verhüllt hatte, und diese Stücke in allen Einzelheiten zu betrachten. Und aufs Ganze gesehen fordert schon die anfängliche Auswahl und Zusammenstellung der unterschiedlichen Gerätschaften das ästhetische Feingefühl des Gastgebers heraus: Die einzelnen Stücke sollen Kontrast herstellen und doch miteinander harmonieren und zugleich mit ihren jeweiligen Besonderheiten die Augen der Gäste fesseln.
Für ein Chaji, eine Tee-Einladung, gilt die Regel: Es soll nicht länger dauern als vier Stunden. Vier Stunden! Vier Stunden intensiver Aufmerksamkeit den Gästen gegenüber, vier Stunden respektvoller Bewirtung: Nach der Begrüßung bietet der Gastgeber seinen Gästen ein bald schlichtes, bald umfängliches Mahl von ausgemachter Raffinesse an – ein rituelles Essen, das nach festen Regeln eingenommen werden muss und an dessen Ende die Gastgeberin (!) von ihr selbst gefertigte und kunstvoll gestaltete Süßigkeiten serviert Es folgt eine kürzere Zeremonie, um die Holzkohle im Fûro zu erneuern, ein Zwischenspiel, dem sich eine Pause anschließt, bei der die Gäste außerhalb des Teehauses auf einer Wartebank Platz nehmen und dem Gastgeber Zeit einräumen, den Teeraum für die Koicha-Zeremonie, die Zubereitung des ‚dicken Tees‘ als das zentrale Ereignis eines Chaji, vorzubereiten. Die zugehörige Zeremonie stellt mit der besonderen Komplexität ihres Ablaufs und der besonderen Kostbarkeit der Geräte den Höhepunkt der gesamten Tee-Einladung dar. Der Ernst und die würdevolle Atmosphäre der Koicha-Zeremonie finden in der abschließenden Zeremonie für den ‚dünnen Tee‘ ihr Gegenstück: Es geht lockerer zu und der Anteil verbaler Kommunikation darf zunehmen. Hat auch diese Zeremonie ihr Ende gefunden, zieht sich der Gastgeber mit einem allen Aufwand, alles Bemühen widerrufenden Understatement von den Gästen zurück: ‚Ich habe nur Ihre Augen ermüdet!‘ Die Gäste verabschieden sich von dem Blumenschmuck, der seit Beginn der Koicha-Zeremonie die Kalligraphie ersetzt hat, sowie von Fûro, Kama und einem von Anfang an unverzichtbaren Kaltwassergefäß, die im Teeraum verbleiben, und verlassen Teehaus und Teegarten.
- Dietrich Roloff -